Ein Tag im Arbeitsamt Aachen

Exkurse
   WOLFGANG CLEMENT anrufen
   MARGARETHE SCHÜTTE-LIHOTZKY
   Feiertage, Arbeitszeit und Wachstum

Anfang April 2005 bekam ich ein Schreiben der "Arbeitsgemeinschaft für die Grundsicherung Arbeitssuchender in Aachen (ARGE in der Stadt Aachen)", das mich erinnerte, daß mir das sogenannte Arbeitslosengeld II nur bis zum 30.4. bewilligt sei. Freundlicherweise schickte man gleich einen Antrag mit, nicht den gefürchteten 16seitigen, bei dessen Ausfüllen Bundesminister WOLFGANG CLEMENT mal persönlich telefonisch helfen wollte, sondern einen fünfseitigen, bei dem ich vieles nicht ausfüllen mußte, und an anderen Stellen bequem "keine Änderung" ankreuzen konnte.

Wenn ich künftig kurz von "Arbeitsamt" schreibe, so auch deshalb, weil man hier nicht mit Geld unnötig um sich wirft (bekomme ich leider auch zu spüren), sondern die alten Bezeichnungen noch nicht angetastet hat, siehe die GIF-Animation mit Aufnahmen vom Mai 2005.

Ich dachte mir, ich lasse erst mal die schwierigen Fälle vor, und brachte das Formular am Montag, den 25.4. zurück, bekam aber gleich einen Termin für den nächsten Tag, damit er mit meiner Akte verglichen werden konnte. So war ich am 26.4. um 7:30 wieder in der Behörde. Eine Frau wußte schon, daß ich kommen sollte, und fragte im Wartebereich B nach mir. Sie hatte auch schon meine Akte in der Hand und ging mit mir im Flur meine Unterlagen schnell durch. Die Büros seien so klein. Übrigens habe ich durch eine Glastür noch ein großes völlig leeres Büro auf der Etage entdeckt.

Ich sollte noch drei Punkte klären

  1. Eigenheimzulage
  2. eventuell höhere Heizkosten
  3. GuV-Rechnung für drei Tage, an denen ich als Selbständiger einen Auftrag hatte

Ich könne mir einen neuen Termin geben lassen oder einfach vorbeikommen, müsse dann aber länger warten. So kam ich spontan zwei Tage später (am Donnerstag oder "Girls Day" den 28.4.2005) um 11:55 wieder in den Wartebereich B.

Das Arbeitsamt in Aachen Organisatorische Übersicht im Aufzug
Wartebereich B

Übrigens mußte ich, als ich noch jung und arbeitslos war, zum Fachvermittlungsdienst für Akademiker, inzwischen bin ich alt und arbeitslos und die Organisation der Behörde ist so schlagkräftig, daß ich nach Postleitzahl (52078) oder Territorium (Aachen Außenstadt) eingeteilt werde. Das unscharfe Bild oben zeigt die Hinweise im Aufzug. Da werde ich sicher bald eine Stelle finden.

Voriges Jahr habe ich mich übrigens auch beim Arbeitsamt beworben, als ich hörte, daß dort noch Mitarbeiter für die Umsetzung von Hartz IV fehlten. Ich habe dabei auch darauf hingewiesen, daß das Arbeitsamt Zuschüsse für die Einarbeitung zahlt.

11:55 scheint keine gute Zeit gewesen zu sein, denn viele MitarbeiterInnen verließen das Gebäude oder zumindest den Bereich zur Mittagspause. Ich hatte noch nicht gefrühstückt. Als die ersten wieder zurückkamen, hoffte ich, nicht mehr lange warten zu müssen. Etwa gegen 12:30 schaute auch eine Mitarbeiterin suchend in den Wartebereich B in das hier gezeigte leere Wartezimmer. Ich saß im Flur und sprach sie an: "Wenn Sie einen Kunden bedienen wollen, können Sie mit mir anfangen!" Sie erklärte, dafür sei sie nicht zuständig.

Da zwar sonst überall (z.B. im Auto, im Computer, an Videorekordern und Herden) Uhren zu finden sind, hier aber nicht, kam ich auf die Idee, meinen Koffer zu fotografieren, um an den angezeigten Daten die Uhrzeit ablesen zu können. Es war inzwischen 12:33. Dann entschied ich noch, bei Auftauchen jeder dort beschäftigten Person ein Bild zu schießen, natürlich nicht von der Person, sondern vom Inhalt meines Koffers. Gelegentlich ging zwar auch die Kamera aus (Selbstabschaltung nach drei Minuten), aber es herrschte so reges Treiben, daß das selten passierte. Glücklicherweise hatte ich noch einen zweiten Akku dabei. Etwa die Hälfte der vorbeikommenden MitarbeiterInnen hatten einen Antrag oder eine Akte in Händen, die anderen meist Getränke (Wassererhitzer, Kaffeekannen, Mineralwasserflaschen). Mir selbst ist das früher bei der Arbeit in einer Kaderabteilung nie aufgefallen, obwohl man auch dort zum Kopieren in den Flur kam (im Wartebereich steht der Kopierer wahrscheinlich in einem separaten Raum), aber anscheinend saßen die Leute dort ruhiger an ihren Computern oder die Akten waren dort sinnvoller untergebracht.

Das Ergebnis meiner Buchführung seht Ihr hier:

Die bei dieser Sortierung ersten drei Bilder zeige ich hier größer. Die Daten könnt Ihr auch überspringen, dann überspringt Ihr aber auch ein Bild.

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Mosaik am Potsdamer Rechenzentrum
Dieses Mosaik fotografierte ich in Potsdam 1990.
Weitere Mosaikbilder von diesem Gebäude
 findet Ihr in meiner DDR-Sammlung.

Obwohl mir dank mitgeführter Lektüre das Warten nicht so schwer fiel wie anderen "Kunden", die nervös hin und her gingen oder ihr Mobiltelefon (für mich eine "elektronische Fußfessel", vgl. meinen Surftipp zu Fernsprechern) traktierten, hatte ich gegen 14 Uhr doch das Bedürfnis, erst noch was anderes zu erledigen.

Ich fuhr nach Hause, speiste warm und packte mir noch etwas zu Essen ein. Außerdem ließ ich zwei ausgelesene Zeitschriften in meiner Wohnung, nahm stattdessen ein dickeres Buch mit und nicht zu vergessen weitere Akkus für meine Kamera. Dann programmierte ich noch meine Videorecorder (die letzte Folge "Mythen der Südsee" auf Nord3, "Spartakus" auf ARTE, eine Dokumentation über Dachau auf BR3 usw. Den Hörfunk habe ich auch nicht vergessen). So war ich vorbereitet, notfalls im Arbeitsamt zu übernachten.

Gegen 15:50 war ich wieder in der Behörde. Es war ruhiger geworden, viele MitarbeiterInnen hatten schon den Heimweg angetreten oder taten es, während ich wartete.

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  9. 28.04.2005  16:00
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  11. 28.04.2005  16:05
  12. 28.04.2005  16:05
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  16. 28.04.2005  16:08
  17. 28.04.2005  16:08
  18. 28.04.2005  16:13
  19. 28.04.2005  16:13
  20. 28.04.2005  16:21
  21. 28.04.2005  16:24
  22. 28.04.2005  16:24
Lebensmittel und Lektüre, hier verdeckt durch GuV-Rechnung und Kontoauszug mit Eigenheimzulage

Gegen 16:24 fiel ich einer freundlichen Arbeitsamtsmitarbeiterin auf, der ich kurz meine Geschichte erzählte. Ich hätte anders als beim 2. Besuch am Dienstag nicht einfach in den Wartebereich kommen sollen, sondern mich unten melden müssen. Sie legte nun einen Termin für sofort an, den ich dann wahrnahm.

Ein anderer Mitarbeiter nahm meine Unterlagen entgegen. Ich war diesmal wirklich kein schwieriger Fall und auch das Kreuzchen bei "keine Änderung" bei den Heizkosten war korrekt. Er fragte mich noch, wohl um die Akte zu finden, aus welchem Büro die Kollegin gekommen sei, aber das war ja hinter meinem Rücken. Auch wie sie ausgesehen habe, konnte ich nicht mehr sagen, denn um 7:30 nachts habe ich noch keine Libido und merke mir das Aussehen von Frauen nicht, das von Männern sowieso nicht. Schon vor 17 Uhr war ich wieder draußen und brauchte mich nicht in der Behörde einschließen zu lassen.

Einen Tag später senkt "Superminister" CLEMENT die Konjunkturprognose deutlich, und das obwohl in den nächsten Monate mehrere Feiertag wirtschaftsgünstig liegen (Siehe Exkurs).

Es würde mich nicht wundern, wenn ich noch mehr Ärgernisse in Zusammenhang mit meiner Arbeitslosigkeit hier veröffentliche.

Exkurse

oben

WOLFGANG CLEMENT anrufen

ALG-II-Antrag auf einem BierdeckelDie 16seitigen Formulare, mit denen Langzeitarbeitslose und ihre Bedarfsgemeinschaften ihre wirtschaftlichen Verhältnisse darlegen sollen, zeigen vor allem, daß das "ALG II" nur Hilfe zum Lebensunterhalt ist und nicht mehr am früheren Einkommen ausgerichtet. Die Zusammenlegung der Sozialhilfe mit der Arbeitslosenhilfe war früher oft gefordert worden und ist an sich auch sinnvoll. Mit der "Arbeitsmarktreform", die aber in diesem Punkt erkennbar nichts mit dem Arbeitsmarkt, aber viel mit den knappen Staatsfinanzen zu tun hat, sollte dies zum Jahreswechsel 2004/2005 geschehen. Von ursprünglichen Überlegungen, daß die neue Leistung 10 % höher sein soll als die bisherige Sozialhilfe, die übrigens seit vielen Jahren nicht erhöht wurde, hat man sich dabei verabschiedet. Auch wollte man wohl noch ein paar Euros bei den Ossis sparen und gibt ihnen deshalb weniger. Unvergessen ist auch die Planung, Personen, die Ende Dezember eine Leistung erhalten, Anfang Januar das "Arbeitslosengeld II" zu verweigern, weil sie nicht bedürftig seien.

Da bisher schon für Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe die persönlichen Verhältnisse offengelegt werden mußten, ist allein die Tatsache, daß dies auch für die neue Leistung geschehen muß, nicht überraschend.

Aber in der für ihn typischen Art, Selbstverständlichkeiten mit Halbwahrheiten, Lügen und Frechheiten zu mischen, mußte WOLFGANG CLEMENT dies so darstellen und herunterspielen:

Natürlich waren die Anträgen nicht in dieser kurzen Zeit auszufüllen. Ich habe selbst anderthalb Stunden gebraucht, obwohl ich nicht Auskünfte etwa eines Arbeitgebers oder anderer Mitglieder meiner Bedarfsgemeinschaft brauchte, auch nicht mit verschiedenen Frauen verschiedene Kinder gezeugt habe, was also eigentlich meinen Fall einfach machen müßte. Und die Besprechung meines Erstantrags im Arbeitsamt dauerte bei zwei Terminen insgesamt nochmal etwa eine Stunde, vor allem, weil aus der Hausgeldabrechnung meiner Eigentumswohnung die relavanten Kosten ermittelt werden mußten. Den Minister habe ich dennoch nicht angerufen, weil da schon die Folgen seiner Aufforderung bekannt waren.


http://www.pilt.de/label/images/stories/Politik/clement_g.jpg

In den Medien wurden nach CLEMENTs flapsiger Äußerung mehrere Telefonnummern genannt:

Der Aufforderung, ihn anzurufen, folgten viele.

Was die Ratsuchenden zu hören bekamen, wenn sie denn durchkamen, zeugte nicht von Kompetenz. Hier die Fragen, mit denen die BILD-Zeitung die Beratungsqualität testete:

Die Antworten verschweige ich lieber. Eine andere gute Idee hatte der DGB Thüringen:

Ob die Abgeordneten dieser Aufforderung gefolgt sind, weiß ich nicht.

Die berühmte Aufforderung, ihn anzurufen, war schon CLEMENTs zweite. Schon im Februar hatte er die Jugendlichen, die keine Lehrstelle finden, aufgefordert, sich bei ihm zu melden. Ich nehme an, daß das weniger Aufsehen erregt hat, weil zwischen der Aufforderung und dem Eintreten der Voraussetzungen ein paar Monate vergingen, aber der DGB hatte es nicht vergessen und Ende September ein "Callcenter" vor dem Bundeswirtschaftsministerium aufgebaut.

KARIN CLEMENT, die Gattin des Ministers, hat inzwischen noch verkündet "Wer einen Job will, kriegt ihn auch". Während WirtschaftswissenschaftlerInnen und PolitikerInnen zu der Behauptung vernünftig Stellung zu nehmen versuchten:

hat TAZ-Kolumnist FRITZ TIETZ die treffendste und passendste Antwort:

Zum Schluß sei noch ein drittes Angebot, IHN anzurufen, erwähnt. Hier nicht vom selbstgefälligen Minister, sondern angeblich von seinem Stellvertreter (na ja, vielleicht etwas übertrieben, und wo bleibt da JOSCHKA?), GOTT:

Der hat also das Callcenter schon vor dem Telefon gekannt. Ich glaube das ja nicht, und was fromme Menschen gern übersehen: Die Menschen, die enttäuscht wurden, können darüber meist nicht mehr sprechen. So ist das z.B. nach Naturkatastrophen, wenn die Überlebenden für Gottes Hilfe danken, ohne zu überlegen, was wohl die Umgekommenen davon halten müßten. So dominieren schon deshalb die Behauptungen, Gott habe geholfen.

weitere Links:

Nachtrag nach der NRW-Landtagswahl

Der Bundeskanzler scheint Schwierigkeiten zu haben, zu beweisen, daß er nicht mehr das Vertrauen des Parlaments hat. Grüne und SPD-Linke wollen nicht gegen ihn stimmen. Das ist dreist, wo sie doch nun endlich mal dürfen. Aber vielleicht hilft ein fünftes Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt, das die aktive Sterbehilfe für Langzeitarbeitslose ermöglicht (Hartz V). Dann könnten katholische Sozialdemokraten wie THIERSE aus Gewissensgründen dagegen stimmen. Daß mein Vorschlag vielleicht kühn, aber nicht abwegig ist, zeigt eine Bemerkung WOLFGANG CLEMENTs zu den Arbeitslosenzahlen von April 2005:

TAZ-Autorin ANNA LEHMANN irrt wohl, wenn sie diese Bemerkung so deutet:

Ist ANNA LEHMANN selbst schon vom Optimismus infiziert? Liegt nicht nahe, dass CLEMENT auf das viel wirkungsvollere "sozialverträgliche Frühableben" (Unwort des Jahres 1998) setzt und mit dem Schierlingsbecher oder ähnlichen Mitteln die Sozialversicherungen sanieren will, wie auch der Kabarettist VOLKER PISPERS vermutet?

MARGARETHE SCHÜTTE-LIHOTZKY

Als ich die MitarbeiterInnen so häufig an mir vorbeigehen sah, wunderte ich mich, daß eine so unproduktive Arbeitsorganisation heute noch möglich ist. Und ich dachte an MARGARETHE SCHÜTTE-LIHOTZKI, die in der Zwischenkriegszeit nicht zuletzt durch ihre "Frankfurter Küche" gezeigt hat, wie viele unnötige Wege sich einsparen lassen.

Die ungeahnte Steigerung der Leistungsfähigkeit in Büros kann man im Aachener Arbeitsamt noch nicht beobachten.

Weitere Links:

Feiertage, Arbeitszeit und Wachstum

Daß ausgerechnet in der Woche, in der ich die geschilderten Erlebnisse hatte, WOLFGANG CLEMENT die offizielle Wachstumsprognose der Bundesregierung senkte, überraschte nach ähnlichen Einschätzungen von Wirtschaftswissenschaftlern nicht mehr. Ich möchte aber auf einen Aspekt hinweisen, der in diesem Zusammenhang nie erwähnt wurde, wohl gern als Argument herangezogen wird, wenn die Ausbeutungsbedingungen des "Humankapitals" (Unwort des Jahres 2004) verschärft werden sollen. Da heißt es dann:

Übrigens wird auch gern gefordert, daß "Öffnungsklauseln" die Tarifverträge aufweichen sollen und in einzelnen Unternehmen Geschäftsführung und Beschäftigte miteinander verhandeln sollen, nur wenn das mal zugunsten einer mächtigen Angestelltengruppe ausgeht, wie vor Jahren bei den Piloten der Lufthansa, hört man eine Zeit lang sehr wenig von solchen Vorhaben. Aber wieso ist die Forderung der Schweriner IHK (und vieler anderer) Unsinn, wenn die Argumente doch so mathematisch nachvollziehbar scheinen?

Nachdem noch unter KOHL für die Finanzierung der Pflegeversicherung der Buß- und Bettag (ich spreche lieber von "Busen- und Betttag") als Feiertag abgeschafft wurde, sind nun auch andere Feiertage im Gespräch, nicht nur der Reformationstag, sondern auch der Pfingstmontag oder Christi Himmelfahrt. Diese Feiertage beruhen auf Landesrecht, weshalb die Bundesregierung sich bei einem ähnlichen Vorschlag auf den "Tag der Deutschen Einheit" stürzte, der künftig am ersten Sonntag im Oktober gefeiert werden sollte. Sie hätte auch den von den Nazis 1933 zum Feiertag gemachten 1. Mai am ersten Sonntag im Mai feiern lassen können, da dies der andere auf Bundesrecht beruhende Feiertag ist, alle andere werden angeblich von den Ländern bestimmt. Ich habe das verschiedendlich gelesen, verstehe aber nicht, was an Neujahr so landestypisch ist. DIE ZEIT behauptet sogar, auch beim 1. Mai seien Länderinteressen berüht. Die Abschaffung des Maifeiertags fordert z.B. die FDP. Die Verlegung des Nationalfeiertags auf Sonntage scheiterte an Widerstand aus allen Parteien und des Bundespräsidenten. Nicht ganz zu unrecht war der Bundeskanzler davon überrascht, hatte er vorher doch oft andere Äußerungen gehört. Als Politprofi hätte er allerdings mit Widerstand rechnen müssen:

Die Idee ist aber schon älter. Ausgerechnet ein halbes Jahrhundert, nachdem Normerhöhungen zum Aufstand in der DDR geführt hatten, hatte Bundesminister CLEMENT schon mal über die Abschaffung von Feiertagen nachgedacht:

Und nach dem Scheitern des ersten Plans kam gleich der Pfingstmontag ins Gespräch, der übrigens in Frankreich 2005 erstmals nicht mehr Feiertag war, was zu Massenprotesten führte.

Mir als Atheisten bedeuten die kirchlichen Feiertage nichts, und auf den "Tag der Deutschen Einheit" kann ich verzichten, vor allem, wenn auch die Einheit wieder rückgängig gemacht wird. Abgesehen davon bin ich ja ohnehin arbeitslos. Das heißt aber nicht, daß ich diese Vorschläge unterstütze, im Gegenteil. Ich mißtraue der Argumentation aus zwei Gründen:

  1. Abgeschaffte Feiertage bewirken kein Wachstum
  2. Abgeschaffte Feiertage bewirken keine dauerhafte Kostenentlastung

Abgeschaffte Feiertage bewirken kein Wachstum

Schauen wir uns die Feiertage an, die auf CLEMENTs Korrektur der Wachstumsprognose folgen:

Vier Feiertag an Wochenenden, ein Feiertag an einem Montag, was "Brückentage" verhindert, da muß doch die Wirtschaft boomen, wenn der Kalender in diesem Jahr ihre Forderung gleich mehrmals erfüllt! Denn das bedeutet mehr Arbeitstage für das gleiche Geld. Aber sie boomt nicht, wie ja auch der Westen nicht die höhere Arbeitslosigkeit hat, sondern der Osten, trotz der dort niedrigeren Löhne.

Die deutsche Wirtschaft kann momentan mehr produzieren, ohne gleich an die Grenze ihrer Auslastung zu kommen. Ein weiterer Arbeitstag, auch ohne Erhöhung der Lohnkosten, würde die Produktion wahrscheinlich kaum erhöhen. Der eine oder andere individuell konfigurierte PKW würde vielleicht einen Tag früher ausgeliefert werden, die auf Halde stehenden Neuwagen würden aber auch mehr.

Die Einkommenssteuereinnahmen würden sich nicht erhöhen, da die Beschäftigten nicht mehr verdienen würden. Die Steuereinnahmen von Unternehmen würden sich aber nicht wesentlich erhöhen, da Unternehmen ohnehin wenig Steuern zahlen und wie oben dargelegt, den zusätzlichen Arbeitstag kaum brauchen, schon gar nicht in Schwerin, auch wenn das die dortige IHK nicht gemerkt hat.

Manche Experten - natürlich nicht alle - sehen das wie ich:

Abgeschaffte Feiertage bewirken keine dauerhafte Kostenentlastung

Man muß sich doch mal grundsätzlich vor Augen führen, wie Löhne und Gehälter bestimmt werden. Von besonderen Umständen (Manager, Verbandsfunktionäre usw.) mal abgesehen, bestimmen Marktkräfte die Höhe dieser Zahlungen, außerdem hat die bisherige Höhe, die sich in vielen Jahren entwickelt hat, einen großen Einfluß. Das sieht man z.B. in solchen Fällen, in denen Teilbereiche eines Unternehmens "outgesourced" werden, um dort einen für die Ausbeutung günstigeren Tarifvertrag anzuwenden, z.B. die Kantinen bei Crimeler Benz. Auch Verkehrsbetriebe, die lieber die Tarife privater Busunternehmen zahlen würden, fallen mir in diesem Zusammenhang ein.

In der bisherigen Höhe der Löhne und Gehälter ist natürlich eingeflossen, wie lange die Betroffenen im Durchschnitt arbeiten, und zwar wieviele Tage im Jahr und wieviele Stunden am Tag. Schon in der Bibel finden sich Tagelöhner, und zu Beginn der Industrialisierung waren wöchentliche Zahlungen häufig. Daß nun monatliche Überweisungen die Regel bei abhängig Beschäftigten sind, ist wahrscheinlich das Ende dieser Entwicklung. Dabei haben natürlich die Beschäftigten nicht von einem Tag auf den anderen statt eines Tageslohns sieben oder sechseinhalb oder sechs bekommen (je nachdem, wieviele Tage in der Woche gearbeitet wurde), sondern eher weniger, weil sie sich zu Recht vorhalten lassen mußten, daß z.B. wegen einiger Feiertage nicht in jeder Woche diese Leistung erreicht würde. Entsprechend wurde wohl bei der Umstellung auf monatliche Zahlungen die Durchschnittsarbeit eines Monats entgolten. Die Feiertage sind in den Löhnen und Gehältern also schon berücksichtigt.

Ändert sich nun durch die plötzliche Abschaffung von Feiertagen die Arbeitszeit noch vor Ablauf von Verträgen, so ergibt sich daraus ein Vorteil für die, die zahlen müssen, und ein Nachteil für die, die arbeiten müssen. Aber bei den nächsten Tarifverhandlungen wissen beide, daß nun im Durchschnitt eine pro abgeschafften Feiertag laut IHK Schwerin 0,4% längere Jahresarbeitszeit zu berücksichtigen ist. Entsprechend dem jeweiligen Kräfteverhältnis mag ein hoher oder niedriger Tarifabschluß ausgehandelt werden, aber bei nicht abgeschafften Feiertagen wäre das erreichbare Ergebnis entsprechend höher (um 0,4% pro Tag) und würde immer noch das Kräfteverhältnis abbilden. Eine dauerhafte Entlastung der Unternehmen wäre theoretisch dann zu erreichen, wenn mit der Abschaffung von Feiertagen zugleich bestimmt würde, daß bei künftigen Tarifverhandlungen anzunehmen sei, daß diese Feiertag noch arbeitsfrei seien - eine völlig absurde Bestimmung, denn wie will man ihre Einhaltung kontrollieren.

Trend zum Stundenlohn

Übrigens geht inzwischen der Trend wieder zum Tages- oder Stundenlohn. Auch ich bin in den letzten Jahren als Selbständiger nur für die geleistete Arbeit nach minutengenauer Abrechnung bezahlt worden. Dies steht allgemein oft im Zusammenhang z.B. mit verstärkter S(cheins)elbständigkeit und führt bei vielen zu wirtschaftlichen Risiken. Ein mir bekannter Journalist, der aus seinem Angestelltenverhältnis betriebsbedingt gekündigt wurde, inzwischen aber wieder als "Ich-AG" für den Konzern schreibt, wenn auch in anderen Ausgaben, meinte zunächst (am 2.4.2004) naiv: "während vordem die Zeilen (nicht die Fotos!!) im Gehalt inbegriffen waren, bekomme ich jetzt für alles und jedes Honorar."

Ich holte ihn zwei Tage später auf den Boden der Tatsachen zurück:

Mir fiel dazu auch gleich HITLERs Reichenberger Rede (4.12.1938) ein: "Und sie werden nicht mehr frei sein ihr ganzes Leben lang." Da war auch mein Freund sprachlos. Ich glaube, jetzt schweife ich zu sehr ab, trotzdem separat hier noch ein paar Links dazu

Zurück zu den Feiertagen. Während seine Kabinettskollegen einen (später vielleicht mehr) Feiertag abschaffen wollte, dachte JÜRGEN TRITTIN darüber nach, einen islamischen Feiertag zum staatlichen zu machen. Die Unionsparteien waren empört, auch aus der Koalition bekam er keine Unterstützung.

Mein Feiertagsvorschlag

Trotzdem ist das der richtige Ansatz. Mein Vorschlag: Wir brauchen viel mehr Feiertage. Jüdische, moslemische, christliche verschiedenster Konfessionen, Verfassungstag, Tag der Deutschen Einheit, 9. November (verschiedene Anlässe) usw. Bei der Einführung müßten wohl die Löhne proportional einmalig gesenkt werden. Später sollten sie wieder Verhandlungssache sein. 10 neue bewegliche Feiertage bedeuten etwa 7 zusätzliche freie Tage pro Jahr. Macht in einem Arbeitsleben durchschnittlich etwa ein Arbeitsjahr (heute ca. 200 Tage) aus. Damit die Menschen nicht weniger arbeiten, könnte man gleich das Renteneintrittsalter um ein Jahr heraufsetzen (mit Übergangsregelungen für solche, die schon länger im Berufsleben stehen). Da freut sich die Rentenversicherung, deren Kassen jetzt leer sind.

Auch für die Lebensqualität hätte es Vorteile, denn mit mehr freien Tagen im Berufsleben statt danach wird die Ungerechtigkeit abgebaut, daß manche früh sterben und nicht viel erlebt haben (Reisen, Ausflüge, private Kontaktpflege usw.), andere aber jahrzehntelang als Rentner dafür Zeit haben. So hatte z.B. mein Vater, als er mit 59 Jahren starb, wahrscheinlich viel weniger Ausflüge unternommen als ich schon jetzt mit 47. Und vielleicht führt das ja sogar zum Aufschwung, weil mehr Leute als Touristen im Lande Geld ausgeben, mehr KellnerInnen und VerkäuferInnen in Ausflugsgebieten gebraucht werden und auch mehr Beschäftigte in der übrigen Wirtschaft, um die Ausfälle durch die verkürzte Jahresarbeitszeit auszugleichen.

Ohnehin ist die z.B. von der zitierten IHK Schwerin behauptete Notwendigkeit der Verlängerung der Arbeitszeit Schwindel. Daran glaubt nicht mal die gesamte Wirtschaft, denn zwar erreichte die durchschnittliche tatsächliche Wochenarbeitszeit inzwischen Werte weit über den in Tarifverträgen vereinbarten, manche Beschäftigten verzichten auf Urlaubstage und lassen den Anspruch im Folgejahr verfallen und auch der Krankenstand ist so niedrig wie nie zuvor.

Aber in manchen Branchen wurden auch Vollzeitarbeitsplätze zerschlagen und viele Minijobs daraus gemacht, vor allem im Handel. Die Beschäftigten können flexibler eingesetzt werden, brauchen weniger Pausen in der Arbeitszeit und leiden nicht so unter Ermüdung. Bisher betrifft dieser Trend fast nur Frauen, obwohl man doch vom Sex weiß, daß Männer schnell müde werden. Aber die Branchen, die hauptsächlich Männer beschäftigen, verlangen zwar gern Flexibilität, sind im Denken ihrer Manager und Funktionäre aber noch ziemlich unflexibel. Glaubt also nicht Wirtschaftsvertretern, die erst zufrieden zu sein scheinen, wenn alle so lange arbeiten wie Assistenzärzte. Dann werden sie auch nicht zufrieden sein, weil die Beschäftigten so viele Fehler wie Assistenzärzte machen. Großbritannien, das die längsten Arbeitszeiten der EU hat, beweist diesen Zusammenhang.

Graffiti aus Aachen
"Männer ab 30 werden schnell müde" - stimmt. Aachen, Adalbertstraße, 1987
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Die Zahl der Arbeitslosen wird nicht reduziert werden, wenn Arbeitszeiten verlängert werden. Mein Vorschlag betrifft nur die Jahres-, nicht die Wochenarbeitszeit, aber die ist eigentlich auch zu lang. Auch wenn interessierte Kreise gerne die Wochenarbeitszeit verlängern wollen - der Krefelder Süßwarenhersteller Nappo wollte sogar die 60-Stunden-Woche einführen - und dafür Arbeitsplätze versprechen, darf man ihnen nicht glauben. In Wirklichkeit führen längere Arbeitszeiten zur Arbeitsplatzvernichtung. Das gilt auch für den öffentlichen Dienst, wie ausgerechnet der bayerische Innenminister BECKSTEIN beweist.

Mein Feiertagsvorschlag ist weder revolutionär noch ein wirklich großer Schritt, sondern führt gemessen an früheren Verhältnissen zu recht wenigen Feiertagen, für die mehrere Religionen und noch weltliche Ereignisse herhalten müssen, während mal allein der Katholizismus ein Vielfaches davon schaffte:

Weitere Links:

Hintergrundmusik: http://herresbach.rotes.net/arbeiterlieder/0029.mid
Text dazu: Arbetloze-Marsj von MORDECHAI GEBIRTIG

 

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