Die Reichskristallnacht

Ein Tatsachenbericbt von ERICH LÜTH, Vorsitzer der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit; vorgetragen in Bergneustadt am 9. November 1958 vor der Friedrich-Ebert-Stifiung.

Zwanzig Jahre nach dem wahnwitzigen Geschehen des 9. November 1938 suchen wir in diesem Arbeitskreise der Friedrich-Ebert-Stiflung, vor uns selber und vor der Welt, Klarheit über eine Wirklichkeit zu gewinnen, die so gespenstisch war, daß das Wirkliche fast unrealistisch und das Erlebte nur noch als ein Exzeß pervertierter Phantasie erscheint.

Ich bin kein Historiker. Ich spreche als Politiker und als Moralist. Das, was 1938 geschehen ist, und das, was wir aus diesen Geschehnissen zu schlußfolgern haben, geht uns als beseelte Einzelwesen ebenso an wie es uns als Glied einer staatlichen Ordnung und einer nach dem Sittengesetz lebenden Gesellschaft betrifft.

Wir und die nachkommende Generation haben darüber zu entscheiden, ob der Hexentanz der Reichskristallnacht aus dem Erlebnis der heute 50- bis 60jährigen lediglich in das Vakuum anonymer Vergangenheit absinken oder erkannte Geschichte wird und sich dem Geschichtsbewußtsein unseres Volkes für alle Zeiten, Maßstäbe schaffend, einprägt. Wir dürfen alles das, was ursächlich und nachwirkend mit dem Komplex der Reichskristallnacht in höllischer Verstrickung verwachsen ist, ebensowenig aus unserem Geschichtsbewußtsein und aus unserem persönlichen Bewußtsein verdrängen, wie wir die Gräber von Bergen-Belsen und die Gaskammern von Auschwitz verdrängen dürfen. Ich glaube auch daran, daß sich unsere Jugend ebensowenig wie unsere Historiker diese Auslöschung eines Teiles unserer Vergangenheitgefallen lassen werden.

Auch die Abstürze, Katastrophen und Niederlagen eines Volkes sind wesentliche Bestandteile seiner historischen Substanz. Werden diese Bestandteile unserer geschichtlichen Substanz verleugnet oder amputiert, so entsteht eine Unterbrechung der Kontinuität der Geschichte, ein Vakuum der Geschichtslosigkeit, eine Verzerrung der Wahrheiten, deren bitteren Teil man eben nicht hinweglügen darf, sondern positiv verarbeiten und Überwinden muß. Zu diesem Versuch einer positiven überwindung unserer düsteren Vergangenheit haben wir uns hier zusammengefunden, bereit zur größten Schonungslosigkeit der Selbstprüfung und Selbstkritik. Nicht um uns zu erniedrigen, sondern um unser Geschichtsbild zu klären und unser Volk, für das Wer von uns mitverantwortlich ist, zu reinigen und aus den Abgründen des Geschehens zu erheben. Lassen Sie mich, der ich Schriftsteller bin, in Erlebnissen und in Gleichnissen berichten, aus denen wir dann gemeinsam die notwendigen Konsequenzen ableiten können.

In einer Hamburger Versammlung hatte ich vor einigen Monaten von dem beklemmenden Doppelleben aller anständigen Deutschen während des Dritten Reiches gesprochen.

Nach dieser Bemerkung stürmte ein ehemaliger Marineoffizier auf die Rednertribüne und schrie in den Saal: "Ich verbitte mir die infame Unterstellung, als anständiger Deutscher während des Dritten Reiches ein Doppelleben geführt zu haben! Ich habe getreu meinem Eid auf einem deutschen Kriegsschiff anständig und gewissenhaft meine Pflicht erfüllt und lasse meine Ehre nicht antasten!"

Obgleich die Versammlung bereits chaotisch war, kehrte ich an das Rednerpult zurück und gab diese Antwort: "Nach meiner Kenntnis der Dinge wurden zur Kriegsmarine immer nur Menschen zugelassen, die über ein gesundes Sehvermögen verfügen. Dieses gesunde Sehvermögen hätte auch Sie im November 1938 in den Stand setzen müssen, die Rauchsäulen der überall in Deutschland aufflammenden Synagogen zu erblicken. Für jeden von uns, der diese Rauchsäulen sah und trotz inneren Widerspruchs auf den Protest verzichtete, begann von Stund an ein furchtbares Doppelleben. Wer aber die Rauchsäulen nicht sah, der mußte mit Blindheit geschlagen sein oder er deckte die Untat und wurde mitschuldigt"

Wir haben in diesem kurzen Dialog die ganze Problematik der innerdeutschen Situation während des Dritten Reiches.

Zwar war die Beziehung des einzelnen zu "Führer, Volk und Vaterland", während dieser Zeit eine Misdiung aus Gelöbnis, Lüge oder Phrase, doch erwies sich in dem Augenblick der Katastrophe, die ja im Grunde nicht erst mit der Kapitulation des großdeutschen Reiches und noch weniger mit dein Selbstmord HITLERs, sondern mit dem Tage der Machtergreifung begonnen hatte, jede Bindung des einzelnen an eine Gesamtverantwortung als gegenstandslos. Die Überempfindlichkeit des kollektiven Ehrgefühls war mit dem Augenblick des Unterganges des Hitlerregimes wie weggeblasen, so daß dem Verbrechen des Regimes und seines Diktators dann plötzlich die nichts als ichbezogene, demonstrative, private "Ehrenhaftigkeit" gegenüberstand. Man floh aus der unerquicklich gewordenen öffentlichen in die nach außen abgeriegelte private Sphäre.

Die eingeborene Zugehörigkeit eines einzelnen zu seinem Volk ist aber mehr als nur Privatsache, denn auch die angeblich so ehrenhafte Dienstleistung eines Marineoffiziers ist ja nicht nur Dienstleistung an sich selber, sondern Dienstleistung gegenüber dem obersten Befehlshaber und Führer gewesen, auf den man vereidigt war. Für jeden von uns war ein Eid auf HITLER, auch wenn er erzwungen war, voller Fragwürdigkeit, und es ist Mangel an Einsicht, wahrscheinlich aber auch Ratlosigkeit und, im Unterbewußtsein, Ausdruck eines schlechten Gewissens, wenn plötzlich ein Uniformierter sich außerhalb seiner Uniform stellt und sich über Bindungen und Fragwürdigkeiten, die für ihn aus Uniformierung und Eidesleistung erwachsen mußten, emotionell und demonstrativ hinwegzutäuschen sucht.

Ich habe während des zweiten Weltkrieges selber die Uniform eines Infanteristen getragen und bin wegen wiederholten Lazarettaufenthaltes, der meine Ausbildung unterbrach, auch wiederholt zur Eidesleistung geführt worden. Ich suchte vor mir selber der Eidesbindung zu entkommen, indem ich den im Chor gesprochenen Eid nicht mitsprach, sondern durch eine vor mich hingemurmelte Verwünschung ersetzte. Auch hier liegt ein Versuch vor, der Bindung durch die Uniform zu entkommen. Das mag ein hilfloser, weil unwirksamer und deshalb sicherlich auch fragwürdiger Versuch gewesen sein, den wohl auch manche andere in ähnlicher Form unternommen haben. Daß wir uns nicht sichtbar auflehnten, sondern nur heimlich opponierten, daß wir nicht die Faust erhoben und auf die Tyrannen einschlugen, sondern die Faust in der Tasche ballten, läßt die ganze Größe unseres Jammers erkennen.

Vielleicht würde der zitierte Marineeffizier in einem Gespräch unter vier Augen zugeben, daß auch ihn die Rauchsäulen über den Synagogen beunruhigt und gequält haben. Vielleicht aber würde er unter Freunden seiner Gesinnung gestehen, daß auch ihm die Maßnahmen gegen die Juden nicht unwillkommen waren. Schlimm sieht es nur um alle diejenigen aus, deren Zahl unbekannt ist, wenn sie auch groß zu sein scheint, die weder vor 1945 noch nach 1945 den Mut besaßen oder das Bedürfnis empfanden, in der jüdischen Frage eindeutig Farbe zu bekennen. Darauf aber sollten wir immer stärker dringen, daß diese Farbe von alt und jung bekannt wird.

Was also ist in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 geschehen? Ich gebe Ihnen Augenzeugenberichte und werde daran einige weitere Überlegungen und Deutungen anknüpfen.

In den Zeitungen war berichtet worden, daß der deutsche Gesandtschaftssekretär VOM RATH in Paris den Schüssen eines 17jährigen polnischen Juden namens GRYNSPAN, der die verfolgten Juden rächen wollte, erlegen war. Die Tat GRYNSPANs sollte vielleicht die Welt aufrütteln gegen HITLER. Sie blieb dennoch Mord. Die Welt verhüllte zwar das Haupt. Die Feinde der Juden aber fühlten sich in ihrem blindwütigen Haß zum wilden Exzeß getrieben.

Der Zufall wollte es, daß ich als damaliger Werbeleiter eines Industrieunternehmens in den frühesten Morgenstunden des 10. November in Kaiserslautern einen D-Zug nach Berlin bestieg und auf dieser Fahrt quer durch das Reich eine Anzahl deutscher Großstädte berührte: Ludwigshafen, Mannheim, Würzburg, Leipzig und dann die Reichshauptstadt selber.

Auf allen D-Zug-Stationen stiegen Augenzeugen des Pogroms hinzu. Alle hatten die nämlichen Ausschreitungen erlebt, den Feuerschein der brennenden Gotteshäuser am Himmel gesehen und die Spuren der Verwüstung jüdischer Privathäuser, Wohnungen, Kaufhäuser, Einzelhandelsgeschäfte und Büros wahrgenommen.

Ich weiß es heute nicht mehr, ob die Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 regnerisch war. Die Umstände waren durchaus dazu angetan, daß der Himmel seine Schleusen öffnete, um über die eingetretene Katastrophe der Menschlichkeit und der Gesittung zu weinen. Die Taxe, die mich mit meinem Gepäck von der Wohnung zum Bahnhof brachte, bog aus der Pirmasenser Straße von Kaiserslautern in die frühere Eisenbahnstraße ein, die in jenen Jahren zeitweilig ADOLF-HITLER-Straße hieß. Es herrschte noch tiefe Dunkelheit. Plötzlich begann der Asphalt im Licht der Straßenlaternen zu glitzern, als sei der Fahrdamm von Wasser oder von einer Schicht Quecksilber überschwemmt. Es war weder Wasser noch Quecksilber. Es war Glas: eine knöchelhohe Schicht zersplitterten Spiegelglases.

Die Splitter begannen unter dem mahlenden Druck der Autoreifen zu klirren und zu scheppern. Wir passierten die Schaufensterfront eines großen jüdischen Kaufhauses. Die Fenster waren blind geworden, die Schaufenster ausgehöhlt. Um die Kleidung der Modepuppen aber raufte sich der Mob. Man entkleidete die Puppen. Frauen und Männer, darunter auch Jugend, rissen Anzüge, Pelzmäntel, Kleiderstoffe, Gardinen, Hemden, Blusen und Röcke an sich. Alles vollzog sich, nachdem die Scheiben einmal zerborsten waren, in einer unheimlichen Geräuschlosigkeit. Wer genug geraubt hatte, suchte mit seiner Beute zu entweichen und huschte durch die dunkleren Seitenstraßen davon.

Der Abgrund der Hölle hatte sich aufgetan. Die Wächter der Unterwelt aber, uniformierte Polizeibeamte, standen am Rande des gläsernen Sees im Schatten der Hauseingänge, offenbar auf nichts anderes bedacht, als ungesehen zu bleiben. Sie griffen nicht ein. Vielleicht hielten sie sich bereit, im Falle des Ausbrechens einer Feuersbrunst in den geplünderten Läden die Feuerwehr zu alarmieren. Nicht um zu helfen, sondern um ein Übergreifen des Feuers auf nichtjüdischen Besitz einzudämmen, denn nur zu bald stellte es sich heraus, daß angesichts der in erschütternder Einsamkeit brennenden Synagogen kein Feueralarm gegeben wurde.

Ich werde nie vergessen, wie der mir unbekannte Taxifahrer sich mit einer langsamen Bewegung zu mir umwandte, mich, ohne ein Wort zu verlieren, brennenden Auges anblickte und dann sein starres Gesicht unter der Schirmmütze wieder zurückwandte in die Fahrtrichtung.

Die auf allen Bahnhöfen zusteigenden Reisegefährten dieses Tages wurden zu Berichterstattern vieler ähnlicher Erlebnisse. Nie habe ich eine ähnliche Wortkargheit der Berichterstattung erlebt. Nie auch hatte sich vor meinen Ohren die Berichterstattung über einen so grauenvoll bedeutsamen Gegenstand so sehr auf nüchterne Mitteilung der Fakten beschränkt und so vollständig auf Meinungzutaten, Kommentare und Stimmungselemente verzichtet. Keiner traute dem anderen, alle tauschten sie nur die örtlich abweichenden Details der Tatbestände aus. Nur wenige triumphierten. Die Mehrzahl blieb wortkarg und fürchtete sich.

In Leipzig erfuhr diese Berichterstattung einen in seiner Art einzigartigen Höhepunkt. Reisende hatten dort erlebt, wie der in der Morgenpresse beschriebene spontane Ausbruch des Volkszorns die Mitwirkung einiger Triebwagen der Straßenbahn zu organisieren verstand. Diese Triebwagen sollten mit Hilfe von Stahltrossen die Säulen und Stützen der dortigen Synagoge, die den Brecheisen des Pöbels und dein Feuer standgehalten hatten, einreißen. Keiner der in Leipzig zugestiegenen Reisenden erwähnte die angebliche Spontaneität. Die Berichterstatter sprachen nur von dem Menschenhaufen, der das Gotteshaus einrennen wollte und zu den motorisierten Pferdekräften der Straßenbahn Zuflucht nahm. Wer aber hatte den Mob in allen Teilen Deutschlands zu gleicher Stunde aufgeboten und sich nicht gescheut, ihm wie in Leipzig auch die Hilfsmittel der Technik in die Hände zu spielen?

Wir lasen in den Zeitungen jedoch vom "spontanen Ausbruch des Volkszornes", doch wir erinnerten uns der Massenaufmärsche der braunen und schwarzen Kolonnen, erinnerten uns der drohenden Reden und Aufsätze des Dr. GOEBBELS und der perfektionierten Organisation aller Gliederungen der NSDAP und ihrer Kampfverbände, die in der letzten Nacht offenbar unter Verleugnung ihrer Uniform und zum Zwecke äußerer Verwischung der Befehlsquellen in Zivil ihr Teufelswerk getrieben hatten. über die Anstifter konnte es keinen Zweifel geben.

Und dann kam Berlin.

In der Tauentzienstraße war Haus an Haus demoliert, die Fensterhöhlen gähnten bis hoch in den dritten und vierten Stock hohl und leer. Bürgersteig und Fahrdamm waren ungleich höher noch als zu Hause in Kaiserslautern von einem Scherbenmeer bedeckt.

Wer zur Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche strebte, mußte das Meer von silbern leuchtendem Glas durchwaten, wie man ein Gewässer oder einen gläsernen Sumpf durchwatet. In einem mehrstöckigen Pianogeschäft hatte man offenbar nicht nur die Flügel in den ebenerdigen Verkaufsräumen mit Axten zerschlagen, sondern kostbare Instrumente auch aus den oberen Stockwerken hinunter auf die Straße gestürzt, wo sie zerschellten, nicht ohne Elfenbein und Ebenholz ihrer Tasten in weitem Umkreis zerspritzen zu lassen, während die gespannten Saiten im Aufprall rissen und sich zu grotesken Knäueln aufgelöst und neu verschlungen hatten.

In Berlin wurde der Wahnsinn dieser überdimensionalen Büberei ungleich offener kritisiert als andernorts. Ich sprach Unbekannte in den Büros und in den Gaststätten, die ungeniert erklärten: "Die Rechnung für alle diese Zerstörung wird uns allen nur gar zu bald präsentiert werden!"

Der Mob hatte zwischen jüdischem Mieter und nichtjüdischem Hausbesitzer nicht zu unterscheiden gewußt. Die Versicherungsgesellschaften jedoch machten diesen Unterschied. Und auch jene andere Feststellung wurde sehr rasch getroffen, daß jüdisches und nichtjüdisches Eigentum so miteinander verzahnt waren, daß alles Zerstörte und Vernichtete dem Volksvermögen schlechthin verlorenging.

So wuchs sich der tobende Haß zu einem Exzeß flagellantischer Dummheit und Selbstverstümmelung aus, wobei die moralischen Einbußen die auf Hunderte von Millionen geschätzten materiellen Einbußen noch bei weitem übertrafen. Der Massenhysterie und Massenpsychose folgte der große Katzenjammer, folgten Bestürzung und Beschämung auf dem Fuße, nur waren die Aktivisten der Zerstörung und die inaktiv Beschämten nicht miteinander identisch.

Mit dieser lapidaren Schilderung der Erlebnisse des Vordergrundes ist mein Augenzeugenbericht noch nicht abgeschlossen. Lassen Sie uns noch einen Blick hinter die gewaltigen Scherbenhaufen werfen.

Während ich am Reiseziel meiner "Fahrt quer durch die Kristallnacht" über Papierkontingente zum Druck von Nähmaschinenprospekten verhandelte, gingen meine Gedanken zurück nach Kaiserslautern zu meinen jüdischen Freunden, einer Arztfamilie. Was war mit unserem Freunde Dr. B., der ein selbstloser Freund der Armen war, geschehen? Was mit seiner nichtjüdischen Frau? Wo war DIETER, der einzige Sohn?

Zurück, in Kaiserslautern, passierte ich auf dem Weg zur Fabrik das Haus in der Mozartstraße. Die Fensterläden hingen demoliert in ihren Angeln. Soweit sie jedoch die zerschlagenen Scheiben noch decken konnten, waren die Läden zugezogen, so ängstlich zugezogen, wie man bemüht ist, eine Blöße schamhaft zuzudecken.

Ich fragte die Kollegen: "Wo ist die Familie B.?" Und ich erfuhr, daß Kurt B. verhaftet worden sei. Man hatte auch ihm Plakate auf Brust und Rücken gehängt mit irgendeiner widerlichen Inschrift, verfaßt und mit stolpernder Handschrift von einem halben Analphabeten aufgezeichnet.

Ich sah das bleiche Antlitz des Verhafteten vor mir, sein schmales vergeistigtes Gesicht, das über aller Erniedrigung schwebte. Ich sah sein schmerzliches Lächeln über aller Qual. Ich konnte meiner Erinnerung an seine Sanftheit und an seine Güte nicht entkommen. Ich kannte, als Patient, auch seine ungewöhnlich behutsamen Hände und fragte mich, wie tief in dieser Stunde wohl der Blick seiner großen dunklen Augen verschleiert gewesen sein mochte. Später erfuhr ich, daß er seine Peiniger stumm angeschaut habe, als wollte er sagen: "oh, ihr Elenden, ihr Mißbrauchten, ihr Armen!"

Erst am Abend nadi Einbruch der Dunkelheit wagte ich, aus einem Fernsprechautomaten die Verbindung mit dem Innern des Arzthauses aufzunehmen. Ich hatte durch die schadhaften Spalten eines der Fensterläden das kalte Licht einer einzelnen Glühbirne wahrgenommen, die im Wohnzimmer brannte. Ich bekam Anschluß. Der Apparat war nicht zerstört. Ich hörte die Stimme der Frau. Gefaßt, tapfer und doch unendlich traurig: "ja, KURT ist verhaftet. DIETER in Sicherheit. Kommen Sie. Nehmen Sie den rückwärtigen Eingang, die Gartentür."

So kam das Mitleid, die Bereitschaft zu helfen, wenn überhaupt noch geholfen werden konnte, scheu und gedrückt und gleichfalls entwürdigt durch die Bedrücker und durch die Halbherzigkeit einer ganzen Nation, über die Hintertreppe.

Dann stand ich im dürftigen Licht einer an Stelle des herabgerissenen Beleuchtungskörpers nackt an die Decke gehefteten Glühbirne im Wohnzimmer, dessen Wände einmal von der riesigen Bibliothek des Arztes überzogen waren. Einige Regale waren wieder aufgefüllt, doch Hunderte von schmalen Bänden und dicken Folianten lagen noch wie auf einem Scheiterhaufen in der Mitte des Raumes auf den Dielen. Hinter den Einbänden verbarg sich der Glanz des Geistes aller großen Philosophen des Abendlandes und alle Schönheit und Würde griechischer, lateinischer und deutscher Klassik.

Wir konnten nicht viel miteinander reden. Nach einer Weile wandten wir uns den geschändeten Büchern zu, hoben sie auf und stellten sie zurück an ihren alten Platz, von dem sie durch rohe Hände heruntergerissen worden waren. Bald entdeckten wir Bücher, die auf dem Index der Gewalthaber standen und deren Besitz, besonders für einen Verhafteten, Gefahr bedeutete. "Wir müssen sie verbrennen", sagten wir uns. "Diesmal waren nur die Plünderer da! Das nächste Mal wird man suchen." Wir begannen auszusortieren: TUCHOLSKY, KÄSTNER, LION FEUCHTWANGER, den Fackel-KRAUS.

Da schrillte plötzlich die Hausglocke. Die Frau sagte fast tonlos: "Das ist die Polizei!" Sie drängte mich in den Nebenraum. "Es ist überall dunkel", sagte sie. "Alle Lampen sind zerschlagen."

Man konnte die Tür nicht schließen, da auch der Türdrücker aus dem Schloß gerissen war. So stand ich hinter der Tür, die nicht ins Schloß fallen konnte, und hörte und sah das große Trauerspiel, das sich wenige Meter von mir entfernt zu einer einzigen großen Szene verdiditet hatte, mit an. Erlebte das Schauspiel unserer Schmach und Schande.

Vor den Büchern, die wir noch eben zu ordnen versucht hatten, vor dem Stapel "gefahrvoller Literatur", stand ein Mann in Zivil. Bleich, mit hängendem Kopf. Ein Polizist, Kriminalbeamter.

"Was wünschen Sie?" hörte ich die Stimme der Frau. Und der Polizist antwortete in einer Kläglichkeit, die grauenhaft war: "Ich wollte mich entschuldigen!"

"Entschuldigen?"

"Ja, entschuldigen! Weil ich einer der beiden Beamten war, die unten im Erdgeschoß die Praxis des Doktors zerschlagen haben."

Die Frau blieb stumm. Der Mann, dessen Arme schlaff herunterhingen, stöhnte. Dann sagte er mit brüchiger Stimme: "Ich hatte nicht den Mut, mich zu widersetzen. Ich gehorchte. Ich wollte meine Stellung nicht verlieren. Sie wissen, meine Kinder ... " Und dann sprach der Mann von seiner Tochter, die der jüdische Arzt, unser Freund, aus schwerster Krankheit, vielleicht vom Tode, errettet hatte.

Es wäre schwer, eine Szene dieser Art zu erfinden: Da war du verwüstete Heim des Armenarztes, da standen die verlassene Frau des Verhafteten, der Handlanger eines verbrecherischen Regimes, das Unschuld heuchelte und den organisierten Pogrom einem mißbrauchten Volke in die Schuhe schob, einem Volke, dessen Zornesausbrudi angeblich ganz spontan war, obgleich es nicht gefragt worden war, und ich, der Zeuge, der Freund, um die eigene Sicherheit bangend, hilfsbereit und doch nicht sehr tapfer, im verdunkelten Nebearaum und hörte alles und sah alles, sah auch den Mann, der sich entschuldigte, aber wohl kaum die Kraft zu dieser jämmerlichen Entschuldigung gefunden hätte, wenn er geahnt haben würde, daß ich ihn sah und zum Mitwisser seiner Zwiespältigkeit geworden war.

Entschuldigungen können trösten. In der Entschuldigung der Plünderer lag wenig Trost. Zwar sagte die Frau hernach: "Dieser Mann hat es tatsächlich nicht fertiggebracht, KURTs kostbares Mikroskop zu vernichten. Er hat mit mir Scherben von Reagenzgläsern, Medizinflaschen, Steinguttöpfen und Fensterglas auf das am Boden liegende Mikroskop gehäuft, um es vor dem anderen, dem im Nebenraum tobenden Nazi, zu verbergen. Wie aber kann ein Mensch so entwürdigt werden?"

Über diesem Gespräch und zwischen allen Sätzen, die gesprochen wurden, schwebte die Furcht um die Verhafteten. Aber das System der Barbarei, die Würdelosigkeit derer, die sich für so stark und mächtig hielten, konnte nicht schonungsloser demaskiert werden als in dieser Stunde im Hause des verhafteten Arztes. Die Hölle war um uns versammelt, die Entfesselung des Bösen machte uns grenzenlos einsam und hilflos, und wir selber hatten durch unsere Schwäche an der Entwürdigung des Menschen und unserer selbst bittersten Anteil.

Wir wandten uns wieder den Büchern zu, unter denen sich auch die Bibel befand. Auch sie war auf den Boden geschleudert worden, mit Werken GOETHEs, SHAKESPEAREs und DANTEs. Wie gut kann das Wort sein und wie wenige erreicht das Wort oft, wie hilflos können auch die Gebote sein.

Sie alle werden begreifen, daß diese Erlebnisse für den Augenzeugen unvergeßlich bleiben werden, und doch handelte es sich ja nicht um ein bloßes privates Erlebnis. Es handelte sich um den individuellen Zugang zu einem niederschmetternden Gesamtgeschehen.

Wer in der Überzeugung oder in der vermessenen Hoffnung lebte, daß die Reichskristallnacht als Ausgeburt der Hölle auf einen Tag beschränkt bleiben würde oder doch zumindest den Höchstpunkt später wieder abklingender Ereignisse bilden würde, sah sich schmählich getäuscht. Was hier geschehen war und in der Phantasie vieler keine Steigerung mehr zu erlauben schien, war nur der Anfang weiterer Entfesselung menschlichen Wahnwitzes.

Er richtete sich gegen Unschuldige, Wehrlose und Unbewaffnete. Noch war Frieden. Noch gab es keinen totalen Krieg. Von 600 000 jüdischen Mitbürgern waren erst 170 000 zur rechten Zeit emigriert.

Jener Arzt in Kaiserslautern, von dem ich berichtet habe, hatte auf die dringenden Vorstellungen, sich rechtzeitig in Sicherheit zu bringen, mit ruhigen und leisen Worten immer wieder geantwortet: "Ich bin in diesem Lande geboren. Ich bin in seiner Geistesgeschichte und in seiner Kultur aufgezogen. Ich liebe dieses Land. Das Haus, das ich hier erbaut habe, ist mein eigenes Haus auf eigenem Grund und Boden. Niemand hat ein Recht, mich aus meiner Wohnung und aus meiner Heimat zu vertreiben. Auch HITLER nicht."

So wie er hatten sich Zehntausende und Hunderttausende anderer jüdischer Brüder an die Gemeinschaft mit uns geklammert. Sie liebten das gute Deutschland und konnten es nicht glauben, daß es auch böse, abgrundböse und höllisch zu werden vermochte. Die Hölle aber schien die Alleinherrschaft anzutreten, als das gute Deutschland den Höllenfürsten, Henkern und Totschlägern nicht entgegenzutreten wagte.

Es ist müßig, hier die Zahl der Todesopfer der Reichskristallnacht aufzuführen. Sie ist relativ klein im Vergleich zur Millionenzahl derer, die in den Konzentrationslagern umgebracht worden sind. Aber die Masseneinlieferung der Juden in die Konzentrationslager begann nach dem 9. November 1938. Wir kennen die in die Hunderte gehende Zahl der verbrannten Synagogen. Es gibt deutsche Großstädte, in denen sechs bis zehn jüdische Gotteshäuser vernichtet worden sind und die heute im Höchstfall eine Synagoge oder einen kleinen Betsaal besitzen. Viele Gemeinden sind noch ohne Synagogen. Es sind Hunderte von jüdischen Kaufhäusern ausgeplündert, beraubt und zerstört worden. Es sind Zehntausende von jüdischen Einzelhandelsgeschäften oder Werkstätten zerstört, beraubt oder enteignet worden. Die Werte, die hier von Hunderttausenden fleißigen Mitmenschen geschaffen worden sind, lassen sich in Geldeswerten nur in Milliarden ausdrücken. Die höchsten und edelsten Werte aber, die vernichtet worden sind, sind die zerstörten Menschen, die Erschlagenen auf der einen Seite und die Opfer sittlicher Selbstzerstörung auf der Seite der Täter und derjenigen, die in einem Höllenkonzert in mißtönendem Chor "Heil" riefen statt "Haltet ein!".

Wir, die wir alles miterlebt haben, mit und ohne geballte Fäuste in der Tasche, haben die Pflicht, die Botschaft unserer Erfahrung weiterzureichen an die junge Generation, damit sie vor der Gefahr bewahrt bleibt, zu erblinden, wie es mit vielen unserer Altersgenossen geschah, die blind und taub geworden waren. Auch die Jahre gestatten es uns nicht, das Geschehene leichter zu nehmen. Noch weilen die Überlebenden der Verfolgung unter uns, die ihre tätowierte Lagernummer aus dem KZ als Brandmal in ihrer Haut mit sich tragen. Diese Menschen sind unter uns, und viele Mörder sind noch unter uns.

Unser Gewissen darf nicht zur Ruhe kommen. Wir müssen nicht nur das äußere Recht, nicht nur den materiellen Besitz wiederherstellen. Viel wichtiger ist die Wiederherstellung der beleidigten Nächstenliebe. Das ist unsere große und unaufhörliche Aufgabe.

Wie es aber um die Geretteten bestellt ist, das mag Ihnen das Wort einer großen jüdischen Dichterin sagen, das Wort der NELLY SACHS, das ich Ihnen jetzt vorlesen möchte:

Chor der Geretteten

Wir Geretteten,
Aus deren hohlem Gebein der Tod schon seine Flöte schnitt,
An deren Sehnen der Tod schon seinen Bogen strich
Unsere Leiber klagen noch nach Mit ihrer verstümmelten Musik.

Wir Geretteten,
Immer noch hängen die Schlingen für unsere Hälse gedreht
Vor uns in der blauen Luft
Immer noch fällen sich die Stundenuhren mit unserem tropfenden Blut.

Wir Geretteten,
Immer noch essen an uns die Würmer der Angst.
Unser Gestirn ist vergraben im Staub.

Wir Geretteten,
Bitten euch:
Zeigt uns langsam eure Sonne.
Führt uns von Stern zu Stern im Schritt.
Laßt uns das Leben leise wieder lernen.
Es könnte sonst eines Vogels Lied,
Das Füllen des Eimers am Brunnen
Unseren schlecht versiegelten Schmerz aufbrechen las
Und uns wegschäumen.

Wir bitten euch:
Zeigt uns noch nicht einen beißenden Hund
Es könnte sein, es könnte sein,
Daß wir zu Staub zerfallen
Vor euren Augen zerfallen in Staub.
Was hält denn unsere Webe zusammen?
Wir odemlos gewordene,
Deren Seele zu I h m floh aus der Mitternacht,
Lange bevor man unseren Leib rettete
In die Arche des Augenblicks.

Wir Geretteten,
Wir drücken eure Hand,
Wir erkennen euer Auge
Aber zusammen hält uns nur noch der Abschied,
Der Abschied im Staub
Hält uns mit euch zusammen.

Die jüdisch-deutsche Lebensgemeinschaft ist, wie LEO BAECK und auch ADOLPH LESCHNITZER in seinem "SAUL und DAVID" feststellen, zerstört. Der jüdische Träger dieser Lebensgemeinschaft ist unter unseren Augen erschlagen. Die Gruppen der rechtzeitig Geflohenen lebten in England, den USA, Südamerika oder als junges Staatsvolk in Israel. Wir sind im Begriff, jüdische Synagogen wiederaufzurichten, aber was aus den Lagern, vor allem der "displaced persons", sich unseren eigenen Siedlungen zugewandt hat, das sind, bis auf ein- oder zweitausend junge Menschen, die Alten, die die Kraft für einen letzten Domizilwechsel nicht mehr aufbrachten. Für die Generation der Sabres in Israel sind wir, auch wenn die Eltern zur deutschjüdischen Alyah zählten, als Deutsche kaum noch existent. Wir müssen es durch die Haltung und durch die Bemühung unserer eigenen Jugend erst wieder werden. So ist für uns der 9. November ein einsamer Gedenktag. Wir sind an diesem Tag mit uns selber und mit unserem Gewissen konfrontiert. Jahr für Jahr. Bis an das Ende unserer Geschickte.

Ich frage: Hat unser Volk die furchtbare Lehre des 9. November 1938 verstanden? und wage es nicht, diese Frage zu beantworten. Das können wir nur gemeinsam!

Wir sind unendlich viel ärmer ohne unsere jüdischen Brüder. Mit ihnen waren wir unendlich viel reicher.

 

Surftipp 35/2001
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